Rede von Präsident Juncker anlässlich der Zentralen Abschiedsveranstaltung für den Deutschen Steinkohlebergbau

Met dank overgenomen van J.C. (Jean-Claude) Juncker i, gepubliceerd op vrijdag 21 december 2018.

Sehr verehrter Herr Bundespräsident,

Liebe Frau Büdenbender,

Herr Ministerpräsident,

Meine sehr verehrten Damen und Herren,

Es gibt Ereignisse im Leben, auf die man sich lange vorbereitet und von denen man denkt, letztendlich könne man ihnen doch entgehen. Und dann sind sie plötzlich da und treffen uns fast unvorbereitet. So weh kann Abschied tun.

An einem derartigen Tag finden wir uns heute hier ein - lange gewusst, nie richtig wahrgenommen. Dies ist ein besonderer Augenblick, und dieser Augenblick ist dicht gefüllt mit Erinnerungen - kollektiven Erinnerungen, individuellen Erinnerungen, Geschichte und Geschichten. Angesichts der Dichte dessen, was sich hier in kurzen Augenblicken darstellt, weiß man nie so recht wo man denn den Anfang der Geschichte vermuten sollte, weil man auch das Ende der Geschichte überhaupt nicht mag.

Für mich ist dies kein gefühlsneutraler Tag. Ich komme aus Luxemburg - Stahl. Mein Vater war Stahlarbeiter. Ich habe 1981 beim Schließen die letzten Erzmine in Luxemburg geholfen. Ich habe viele Stahlarbeiter auf ihrer letzten Schicht begleitet. Als ARCELOR auf Elektrostahl umstellte, war ich bei der letzten Nachtschicht dabei. Und deshalb geht mir das auch sehr zu Herzen, weil mich das an Einiges erinnert, was mir im Leben wichtig war und meinem Vater auch.

Es ist vor allem das Gefühl der Dankbarkeit, das mich heute beseelt. Dankbarkeit für Hunderttausende, die eigene Lebensleistung und regionale Lebensleistung zu einem großen Ganzen zusammengefügt haben, das auch über diesen Tag hinaus dauerhaften Bestand haben wird.

1923 hat Graf Coudenhove-Kalergi in einem bemerkenswerten Aufsatz - so bemerkenswert, dass heute kaum noch jemand ihn kennt - gesagt: Wir müssen in Europa, wenn wir Krieg zwischen den europäischen Nationen verhindern möchten, Kohle und Stahl den nationalen Händen entreißen und sie auf europäischer Ebene zusammenführen. Er war derjenige, der zum ersten Mal von einer europäischen Gemeinschaft von Kohle und Stahl geredet hat. Hätte man ihm damals doch zugehört, es wäre uns vieles erspart geblieben auf unserem Kontinent.

Kohle und Stahl - das waren Kriegsmaterialien, Kriegsinstrumente, und sie dem stupiden nationalistischen Zugriff zu entziehen, war eine große Leistung der Nachkriegseuropäer. Nicht wir, nicht meine Generation hat dafür gesorgt, dass in Europa neue Verhältnisse einzogen. Das war die Generation derer - unserer Eltern und Großeltern -, die aus den Konzentrationslagern und von den Frontabschnitten zurück in ihre zerstörten Dörfer und Städte kamen und aus diesem ewigen Nachkriegsgebet "Nie wieder Krieg" ein politisches Programm entworfen haben, das bis heute seine Wirkung zeigt. Und sie haben dieses Unterfangen, dieses Abenteuer mit Kohle und teilweise auch mit luxemburgischem und anderem Stahl, begonnen.

Mich wundert immer, so beim Sinnieren über das was war und beim vorsichtigen Nachdenken über das was kommen könnte, wieso es eigentlich so ist, dass unter Tage die Solidarität so groß sein kann, und über Tage so oft abwesend ist.

Unter Tage sind alle gleich. Herkunft, Familienstand spielen keine Rolle. Alle sind gleich unter Tage. Und diejenigen, die unter Tage gearbeitet haben und auch heute noch - nicht an vielen Stellen in Europa - unter Tage arbeiten, die haben doch irgendwie ein neues Licht in die Welt gebracht, weil sie unter Tage etwas erlebt haben, was sie tagsüber und über Tage auch gerne so erleben würden.

Kohle hat uns viel gebracht - nicht nur dem Ruhrpott, nicht nur dem Kohlerevier, nicht nur NRW, nicht nur Deutschland. Sie hat eine kontinentale Wirkung gehabt - die Kohleförderung -, weil ohne Kohle gäbe es keine Montan-Mitbestimmung, und ohne Montan-Mitbestimmung gäbe es überhaupt keine Mitbestimmung in der Form wie wir sie hier in Deutschland und sonst wo kennen.

Ohne Kohle und ohne Montan-Mitbestimmung gäbe es auch keine soziale Marktwirtschaft. Und ohne soziale Marktwirtschaft gäbe es nicht das, was uns bei aller Unterschiedlichkeit der Standpunkte immer wieder zusammenführt. Obwohl dieser sozialen Marktwirtschaft in den letzten Jahren manchmal übel mitgespielt wurde. Das was wir anlässlich der Wirtschafts- und Finanzkrise - 2007 bis vor kurzem - erlebt haben, war ja nicht ein Versagen der Marktwirtschaft, sondern ein Nichtbeachten der Kardinaltugenden der Marktwirtschaft. Weil das schnelle Geld ist nicht Marktwirtschaft und es hat auch mit sozialer Marktwirtschaft nichts zu tun.

Und ohne Kohle hätte es die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl nicht gegeben. Ohne die EGKS hätte es die Europäische Union nicht gegeben. Und ohne Kohle gäbe es auch nicht die Europäische Kommission, weil die ist auch ein Kind der Kohle. Insofern bin ich diesbezüglich total schwarz - total schwarz.

Es gibt ein schönes Gedicht von Rilke - es gibt sehr viele schöne Gedichte von Rilke, auch "Der Panther", schwarz er auch. Rilke sagt: "Ich lebe mein Leben in wachsenden Ringen, die sich über die Dinge ziehen. Ich werde den letzten vielleicht nicht vollbringen, aber versuchen will ich ihn." Nun ist es hier so: Hier ist vieles in wachsenden Ringen entstanden und jeder Ring hat seine eigene Bedeutung, und für jeden Ring steht ein Kumpel. Aber die Ringe hier, die ziehen sich nicht über die Dinge, die verdecken die Dinge nicht, sondern sie legen die Dinge frei. Und deshalb gilt mein Dank all denen, die unter Tage gearbeitet haben, gilt mein Respekt denen und ihren Familien, weil ohne Familie und ohne Zusammenhalt in der Gesellschaft entsteht nichts. Kohle ist keine spontane Generation, Kohle entsteht durch das Werken und das Wirken der Menschen.

Und deshalb bin ich überhaupt nicht traurig - doch, weil eigentlich mag ich das nicht, was sie hier gemeinsam veranstalten. Aber ich habe doch das Gefühl hier im Ruhrpott, im Kohlerevier, in Nordrhein-Westfalen gibt es einen Menschenschlag, der stark in all seinen Verästelungen geprägt und geformt wurde, von denen, die Kohle gefördert haben. Und dieser Menschenschlag, dieser von der Kohle geformte Charakter, der wird uns alle überleben. Vielen Dank.

SPEECH/18/6904