Speech: Rede von Präsident Juncker anlässlich der Diskussionsveranstaltung der Bonner Akademie für Forschung und Lehre praktischer Politik: "Europas Ende - Europas Anfang? Die EU zwischen Krise und Aufbruch
Sehr verehrter Bodo Hombach,
meine sehr verehrten Damen und Herren,
ich weiß nicht, ob ich dem Erwartungshorizont von Bodo Hombach gerecht werden kann - nicht alle sind so naiv wie Du (Gelächter im Saal). Deshalb wage ich mal, in Frage zu stellen, ob das mir Aufgetragene erfüllt werden kann.
Ich habe 20 Minuten zur Verfügung. Das ist genau die Zeit, die ich normalerweise zum ersten Teil meiner Einleitung brauche. Und ich habe nachher noch ein Gespräch mit Herrn Steingart, also möchte ich hier nicht alles abräumen, weil ich nicht möchte, dass er allzu sehr inspiriert in diese Runde eintritt.
Ich würde eigentlich gerne beginnen mit dem internationalen Kontext, in dem die Europäische Union sich bewegt. Nach dem Wahlsieg von Trump hat sich vieles geändert. Es ist in der internationalen Politik ein Vakuum entstanden, das dadurch entsteht, dass unsere amerikanischen Freunde sich aus vielen Teilbereichen internationaler Politik zu verabschieden gedenken. Das Vakuum muss von Europa aufgefüllt werden. Ich darf hier berichten, dass seit dem Cold-Shouldering von Herrn Trump dem Rest der Welt gegenüber der Zuspruch Europas in weiten Teilen der Welt gewachsen ist. Weil bei mir defilieren viele, die uns neu entdecken, und weil sie einen festen Punkt in der internationalen Landschaft brauchen, an dem sie sich orientieren können. Ob sie da bei der Europäischen Union an der richtigen Adresse sind, sei dahingestellt, aber jedenfalls besteht die Erwartung, dass die Europäer ihrer internationalen Verantwortung gerecht werden, was auch implizit bedeutet, dass Deutschland sich vor Führungsaufgaben, vor Ko-Führungsaufgaben in der Europäischen Union nicht wird drücken können.
Nicht alles, was in der EU i passiert, ist gut, und nicht alles ist schlecht. Wenn alles gut wäre, dann wäre ich nicht als Kommissionspräsident angetreten, denn dann hätten andere das auch tun können. Nicht alles, was gut ist, ist den Mitgliedstaaten zu verdanken. Und nicht für alles, was schlecht ist, ist die Europäische Kommission in Haft zu nehmen. Die Dinge sind etwas komplizierter.
Wieso leidet die Europäische Union an einem Imageproblem? Das hat mit ihr selbst zu tun - weil Europäische Union heißt ja auch immer Europäische Kommission -, das hat aber auch mit den Mitgliedstaaten zu tun, weil vieles, für das Brüssel haftbar gemacht wird, sind eigentlich Entscheidungen der Mitgliedstaaten der Europäischen Union. Ich staune immer nach einer Sitzung des Europäischen Rates, wenn ich mir die nationalen Pressekonferenzen anschaue, respektiv nachlese, was die Staatenlenker alles zum Ausdruck gebracht haben. Ich sitze da alleine - die Kommission ist immer alleine - und höre zu, was gesagt wird. Und wenn ich dann die Zeitungen lese oder die Tagesthemen oder das Heute Journal anschaue, habe ich den Eindruck ich wäre in einer völlig anderen Sitzung gewesen. Weil man in Brüssel etwas beschließt, was man zu Hause nicht vertritt. Das ist ein echtes Problem. Das ist auch ein Demokratiedefizit-Problem. Demokratiedefizite, was eher Rechenschaftsdefizite sind, die gibt es nicht nur in Brüssel, die gibt es in den meisten der Hauptstädte auch.
Ich gebe Ihnen mal ein paar Beispiele. Ich bin angetreten, um in Sachen Aufteilung der Aufgaben in der Kommission halbwegs neue Wege einzuschlagen. Ich habe den Schlachtruf ausgegeben - auch während des europäischen Wahlkampfes, wo ich Spitzenkandidat der EVP i war und deshalb auch demokratisch legitimiert bin, Herr Steingart. Ich bin ja kein Putschist, der in Brüssel herumsitzt. Auch im Wahlkampf habe ich gesagt, Europa müsse sich auf die großen Aufgaben - das haben auch einige der jungen Menschen, nicht nur die, die für eine Woche an meiner Stelle sein möchten, ich würde da gerne vorläufiges Beileid aussprechen für diejenigen, die das ernsthaft in Erwägung zögen -, ich habe gesagt, wir müssen groß in großen Dingen sein und klein, zurückhaltend in kleinen Dingen. Das tun wir. Wir haben in Sachen Bürokratieabbau große Fortschritte erzielt, nur niemand weiß es. Wir haben 100 Gesetzesvorhaben, die auf dem Tisch des Parlamentes und des Rates lagen, einfach gekillt, zurückgezogen. Wir haben 48 in Kraft sich befindliche Gesetze abberufen. Eigentlich müsste dies auch in jedem nationalen Parlament vorgenommen werden, weil diese europäischen Gesetze ja ins nationale Recht übersetzt wurden. Somit müsste also auch in den nationalen Parlamenten 48 Mal Flurbereinigung vorgenommen werden. Mir ist das bislang nicht aufgefallen.
Und wir haben nur 23 neue Initiativen pro Jahr gestartet. Im Vergleich, die Vorgängerkommission: 130 neue Initiativen pro Jahr. Niemand sagt, dass wir das tun, was wir in Aussicht gestellt hatten. Das Europaparlament, einige im Europaparlament, beklagen sich sogar darüber, die Kommission würde nicht genug liefern - es gäbe nicht genug Arbeit. Dabei liegen noch 400 Texte der Begutachtung des Gesetzesgebers vor. Also so zu tun, als ob wir da nicht das getan hätten, was wir in Aussicht gestellt haben, ist strikt falsch.
Ich habe mich - um ein weiteres Beispiel zu nennen - mit der Ökodesign-Richtlinie intensiv beschäftigt. Sie können sich an diese Debatten über Duschköpfe und anderes erinnern. Da kommen Vorschläge, von den Kommissaren nicht beachtet, weil die Dienststellen das ja oft machen, und das ist ein echtes Problem in Brüssel. Ich weiß, in nationalen Regierungen ist das völlig anders, aber in Brüssel ist das so. Und dann habe ich dafür Sorge getragen, dass wir uns von Duschköpfen entfernt halten, dass wir uns nicht weiter mit der Normierung der Wärmeerhitzer beschäftigen und mit einiger Mühe habe ich es auch geschafft, dass wir die Toilettenspülungen in Europa nicht harmonisiert haben.
Ich sage das nur, um zu sagen, dass wir manchmal auch übertreiben beim Bürokratieabbau. Weil der Energieverbrauch von Toilettenspülungen, Wärmeerhitzern und Duschköpfen ist relativ groß. Aber ich wollte nicht damit weitermachen, die Leute zu ärgern. Und jedem Handwerker, auch hier in NRW, die Möglichkeit zu geben, wenn er in einen Haushalt kommt, um etwas neu einzurichten, zu sagen: Ich hätte überhaupt nicht kommen brauchen, wenn Brüssel nicht wäre. Das passiert regelmäßig, und deshalb haben wir das verändert.
Es wird gesagt: Europa müsse mehr zum Schutz seiner Außengrenzen tun, was richtig ist. Niemand sagt aber, was getan wurde, weil der Schutz der Außengrenzen funktioniert. Es gibt 100.000 nationale Beamte, die auf die Außengrenzen achten. Wir haben 857 Mann aus EU-Mitgliedstaaten nach Griechenland versetzt, um bei dem Schutz der Außengrenzen von Griechenland zu helfen, 350 nach Italien. Wir haben einen Pool von 1500 morgen früh um 11 Uhr abrufbaren europäischen Grenzschützern zusammengestellt. Ich lese aber jeden Tag und höre in jeder Bundestagsrede, dass jetzt endlich mal ernst gemacht werden müsse mit dem Schutz der Außengrenzen. Und ich habe manchmal Lust, in die Debatte hinein zu telefonieren, mal zu fragen wie viele Grenzschützer es denn überhaupt gibt, die wir von Brüssel aus in die Grenzländer Griechenland und Italien geschickt haben, die wir sträflichst allein gelassen haben am Anfang der Flüchtlingskrise - sträflichst allein gelassen. Sie können ja nicht für die Zufälle der Geographie haftbar gemacht werden. Und wenn man im Inneren Europas manchmal sagt: "die Italiener und die Griechen sollen ihre Probleme selbst lösen", dann ist dies ein Unding. Deshalb verteidige ich auch hier die Politik der Bundeskanzlerin, die gesagt hat, das ist auch unser Problem und wir müssen hier mit anpacken. Und das war richtig so.
Ich weiß nicht, ob Sie wissen, was Komitologie ist. Ich hatte das früher auch mal gehört. Komitologie besteht darin, dass jemand - eine Dienststelle aus der Kommission - etwas vorschlägt. Im Nahrungsmittelbereich - ich habe eben gehört, darum sollte man sich nicht kümmern. Darum müssen wir uns kümmern. Nahrungsmittel, die im Westen vertrieben werden, haben eine höhere Qualität als Nahrungsmittel, die in Osteuropa vertrieben werden. Das muss man regeln. Und ich tröste mich nicht mit dem Gedanken, dass die Menschen in Südeuropa einen anderen Geschmack haben als in Hamburg. Das mag ja sein, aber wieso Waschpulver eine mindere Qualität in Riga hat als in Köln, das muss man mir noch im Detail erklären. Wir sorgen uns um diese Dinge. Und Komitologie besteht darin, dass eine Dienststelle der Kommission einen Ausschuss der Mitgliedstaaten zusammengesetzt hat - 28 nationale Experten befasst - und diese 28 Experten entscheiden, und dann steht übermorgen im Handelsblatt: "Juncker hat entschieden, dass..." Es war aber nicht Juncker, es waren 28 nationale Experten, die niemand kennt, in keinerlei Weise demokratisch legitimiert. Und wenn die sich nicht einigen können, dann sieht das Regelwerk vor, dann muss die Kommission alleine die Entscheidung treffen. Ist das Demokratie? Ist das Transparenz?
Wir haben jetzt eingeführt, dass jede Regierung, die via Experten eine Meinung äußert, das öffentlich bekannt machen muss und dass die letzte Entscheidung nicht von der Europäischen Kommission zu treffen ist, sondern vom Ministerrat. Der muss befasst werden, weil dort ist die nationale Legitimierung und die Legitimitätsquelle. Ich habe in Erfahrung gebracht, dass die wenigsten Regierungen das mögen. Es ist einfacher zu sagen: "Kommission, entscheide Du". Die Mitgliedstaaten, wenn die sich koalitionsintern nicht auf eine Linie verständigen, enthalten sich. Glyphosat ist ein gutes Beispiel - CDU dafür, SPD dagegen, Bundesdeutsche Enthaltung in Brüssel. Enthaltung ist aber keine Haltung. Man muss singen, wenn man zum Singen aufgefordert wird. Und das werden wir in Zukunft bei all diesen Dingen tun, weil ich gerne hätte, dass die Prozesse nachvollziehbarer sind, dass sie demokratisch legitimierter sind.
Wir stehen im Verdacht, Lobbyisten gut zu bedienen. Wir haben ein Transparenzregister aufgelegt; 11.000 Bodies, Companies - statt 7.000 vorher - stehen da drauf. Jeder Kommissar, jedes Kabinettsmitglied, jeder Kabinettschef, der einen Lobbyisten trifft, muss das öffentlich bekannt machen. Hat schon jemals jemand nachgeprüft, wie oft man in der Kommission Lobbyisten empfängt? Man tut das oft, aber viel weniger als vorher. Wenn Lobbyisten - das ist kein Beruf, den ich hier als ein halbes Verbrechertum beschreiben möchte -, aber jedes Mal, wenn ein Lobbyist anruft und sagt, ich hätte gern einen Termin beim Kommissionspräsidenten, sagt meine Sekretärin, die ich sehr herzlich hier begrüße: "Sie wissen ja, dass das öffentlich gemacht werden muss." Das hat die Zahl derer, die mich dringend sprechen müssen, um zwei Drittel nach unten bewegen lassen.
Deshalb kümmern wir uns um die großen Dinge - Vertiefung der Wirtschafts- und Währungsunion, Kapitalmarktunion, Ähnliches. Wir haben Pläne zur Energieunion vorgelegt, das funktioniert - annähernd. Wir haben Vorschläge in Sachen Migrationspolitik gemacht, wir saßen nicht in Brüssel und haben Däumchen gedreht. Wir haben uns mit dem Thema ganz zu Anfang beschäftigt. Mit keinem Totalerfolg, aber mit Teilerfolgen von denen man nie spricht. Vor einem Jahr noch wurde überall bemängelt, dass man als Flüchtling, aus der Türkei oder von sonst woher kommend, nach Griechenland einreisen darf und es werden nicht einmal Fingerabdrücke genommen, sodass wir nicht verfolgen können wer, wo, wie, wann und weshalb, wohin sich bewegt hat. Jetzt haben wir dafür gesorgt, dass 100% der in Griechenland ankommenden Flüchtlinge ihre Fingerabdrücke hinterlassen müssen, die dann auch europaweit in Umlauf gebracht werden. Auch hier wäre einiges nicht passiert, wenn dieses System schon funktioniert hätte - mit "hier" meine ich Deutschland und in specie Berlin Weihnachtsmarkt. Wenn das System schon da gewesen wäre, dann hätte das vielleicht nicht so passieren können. Es wird gesagt: alles ist schlecht. Dabei kommen jetzt aus der Türkei 98% weniger Flüchtlinge in Griechenland an als das noch vor Jahresfrist der Fall war. Es kamen in 2016 10,000 Flüchtlinge an einem einzigen Tag aus der Türkei nach Griechenland; jetzt sind es 70 bis 90 pro Tag. Wenn wir diesen Flüchtlingsstrom aus der Türkei kommend nicht gestoppt hätten durch dieses verfemte Türkei-Abkommen, dann wären wir in Europa schwierigen Zeiten entgegen gegangen. Deshalb verteidige ich es, weil die Türkei hält sich an dieses Abkommen. Die Türkei ist ja kein einfacher Partner geworden, aber in Sachen Flüchtlingsabmachungen hält die Türkei sich an das, was wir abgemacht haben. Ansonsten ist es etwas schwieriger geworden. Ich hatte im Leben zwei große Freunde, Putin und Erdoğan, und mit denen ist irgendetwas passiert, was ich nicht unter Kontrolle gebracht habe, aber das ist kein Grund, um nicht mit ihnen zu reden. Und das tun wir.
Wir haben eine Investitionslücke in der Europäischen Union, die sehr schlimme Ausmaße angenommen hatte. 2014 hatten wir ein Investitionsdefizit von 15% im Direktvergleich zum Vorkrisenjahr 2007. Deshalb haben wir einen Investitionsplan aufgelegt, hieß Juncker-Plan am Anfang, weil Freunde von mir unbedingt wollten, dass er Juncker-Plan heißt, weil sie den Verantwortlichen für das Scheitern dieses Planes präidentifizieren wollten. Jetzt funktioniert das Ding - EUR 183 Milliarden Investitionen wurden mobilisiert, EUR 630 Milliarden werden bis 2022 mobilisiert, und jetzt heißt er Europäischer Fonds für Strategische Investitionen.
Es gibt, worüber wenig berichtet wird, auch gute Nachrichten in Europa - nicht sehr gute, aber gute. Wir haben den höchsten Beschäftigungsstand in Europa, den wir jemals hatten: 232 Millionen Europäer befinden sich in Arbeit. Unsere Beschäftigungsquote ist höher als die der Amerikaner. Das europäische Wachstum ist deutlich höher als das amerikanische Wachstum. Die Arbeitslosenstände haben sich nach unten korrigiert, mit einigen trotzdem beträchtlichen Ausnahmen. Wir haben 19,7 Millionen Arbeitslose - das sind viele zu viel. Aber in 2016 waren es, wie man im Handelsblatt vom 12. Juni letzten Jahres nachlesen kann, noch 21 Millionen. Hat man schon gelesen, dass es nur noch 19,7 sind? Nein, man wird das übermorgen lesen.
Wir tun also mehr als man denkt. Und das ist das eigentliche Thema. Wenn man in Brüssel sitzt, hat man immer den Eindruck, es gibt einen kontinental weit zu hörenden Ruf nach mehr Europa. Meiner Einschätzung nach ist dem nicht so. Die Menschen möchten nicht allenthalben mehr Europa, aber die Menschen möchten überall ein besseres Europa. Und wir sollten uns auf diese Aufgabe konzentrieren und dann haben wir genug zu tun. Immer mehr Europa tötet im Endeffekt Europa. All diejenigen, die von den Vereinigten Staaten von Europa reden, tun Europa einen schlechten Dienst, denn die Menschen möchten nicht nach dem Vorbild der USA die Vereinigten Staaten von Europa haben. Die Menschen verlieben sich in ihre direkte Nähe: in ihre Stadt, in ihre Region, in ihr Bundesland, in ihr Kanton, whatsoever. Sie möchten nicht überall Europa als Diktator des Kontinentes erleben.
Deshalb haben wir ein Weißbuch zur Zukunft Europas vorgelegt, mit fünf Szenarien; keines davon ist mein Ideal im Übrigen. Es hätte etwas mehr Mut gebraucht, so einen Juncker-Plan für die Zukunft vorzulegen. Das wäre dann aber nach zwei Jahren europäischer Zukunftsplan genannt worden. Ich wollte das nicht tun, weil ich einfach mal zeigen wollte, dass diese Art und Weise, wie Europapolitik oft betrieben wurde, und auch noch teilweise wird, nämlich, dass die Kommission vorschreibt. Die Kommission singt vor und die Mitgliedstaaten und die Menschen müssen das abnehmen. Das geht so nicht mehr. Deshalb haben wir fünf Szenarien vorgestellt, die in der Debatte sind, die überall diskutiert werden. Wollen wir, dass Europa eine gehobene Freihandelszone ist? Das möchte ich nicht. Wollen wir weniger tun, aber dafür besser tun? Wollen wir einiges besser tun und von anderem die Finger lassen? Das ist die Debatte, die jetzt in den Mitgliedstaaten der Europäischen Union geführt werden muss, damit wir zu Potte kommen, weil wir können diese sich immer wiederstellenden Fragen nicht unbeantwortet lassen.
Und wir müssen auch lernen, dass wir Europa richtig sehen. Wir sehen Europa nicht richtig. Erstmal wissen wir übereinander nicht sehr viel. Ich staune immer wieder - auch in der Kommission, das ist ein Ort des permanenten Staunens -, was wir so alles wissen. Wir wissen sehr viel über die Haushaltslage der Euro-Mitgliedstaaten - mehr als in eine Zeitungsüberschrift passt, jedes Land wird da mit 100, 150, 200 Seiten begutachtet. Das ist kein Vergnügen, das zu lesen. Ich habe auch den Eindruck, ich gehöre zu den wenigen Dauerlesern der Literatur der Europäischen Kommission, andere tun das nicht, sondern schreiben nur darüber. Aber das ist eine Detailarbeit, eine aufreibende und auch aufregende Detailarbeit. Aber wir wissen nicht viel. Was wissen wir denn hier als Bonner über die Sizilianer? Und was wissen die Sizilianer über die Nordlappen? Nichts. Aber wir reden so, als ob wir wüssten, was überall los ist. Das ist nicht so. Man muss sich intensiver um die anderen kümmern. Man muss sich auf eine gewisse Art und Weise diesen soften Flirt ersetzen durch eine immer tiefergehende Bekanntschaft aus der Liebe entstehen kann. Die Europäer lieben sich nicht mehr untereinander, das ist ein echtes Problem, und insofern ist dies ein Zeitenwechsel im Direktvergleich zu dem, was nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges eigentlich zu beobachten war.
Wir reden über Europa und kennen Europa nicht. Wissen die Europäer eigentlich, dass Europa der kleinste Kontinent ist? 5,5 Millionen Quadratkilometer. Und wir tun so, als ob wir die Herren der Welt wären. In einer multipolaren Welt braucht es mehr als nur ein oder zwei oder drei Herren. Russland: 17,5 Millionen Quadratkilometer. Noch Fragen zu dem sich mit Russland annähernd verständigen zu wollen, wenn man sich diese Zahlen zur Meditation vorlegt? Wir wissen nicht, reden jedenfalls nicht genug darüber, dass der Anteil der Europäer an der globalen Wertschöpfung sich dramatisch nach unten verschlechtert. Heute stellen wir zwischen 25 und 30%, je nach Lesart, der globalen Wirtschaft dar. 80% der Wertschöpfung findet heute schon außerhalb der Europäischen Union statt. Wir nehmen an wirtschaftlichem Gewicht drastisch ab. Andere kommen - die Inder, die Chinesen, die Japaner sind schon da. Andere, auch die Afrikaner, und zu Recht. Es gibt ja kein Gottesgebot, das sagt, dass die Europäer in der Sonne leben und die Afrikaner dauernd im Schatten leben müssen. Wir haben heute 1,25 Milliarden Afrikaner. Bis 2050 werden es 2,5 Milliarden sein. Wir müssen uns also um Afrika kümmern. Deshalb hat die Kommission einen externen Investitionsplan von EUR 44 Milliarden vorgeschlagen, weil wir doch die Flüchtlingsursachen vor Ort bekämpfen müssen anstatt die Menschen ins Unglück zu stürzen. Mit der Privatwirtschaft gemeinsam müssen wir diese investive Afrika-Politik betreiben. Und demografisch befinden wir uns auf dem absteigenden Ast. Am Anfang des 20. Jahrhunderts waren 20% der Weltbevölkerung Europäer, sogar 25%. Am 1. Januar 2060, das haben wir genau berechnet, weil wir sind da sehr gut in der Kommission, wird es noch 6% Europäer auf zehn Milliarden Menschen geben. Das heißt wir verlieren an demografischem Gewicht, da kann die Kommission auch nichts tun - weil wir sind nicht zuständig für die kontinentale Libido, das müssen andere schon durch eigene Anstrengungen selbst in die Hand nehmen. Wir nehmen an wirtschaftlichem Gewicht ab und wir sind der kleinste Kontinent. Wer diese Zahlen, die sich nicht verändern werden, im Blick hat, der weiß, dass jetzt nicht die Stunde gekommen ist, um uns wieder in nationale Einzelteile zu zerlegen. Wir brauchen in dem Sinne mehr Europa, dass wir die Integrationskräfte stützen müssen. Wenn ich nicht Luxemburger wäre, würde ich gegen diese Art der Kleinstaaterei wettern. Aber weil ich weiß, dass Kleinstaaten auch manchmal erfolgreicher sind als ihre größeren Nachbarn, unterlasse ich das; weil ich war 19 Jahre Premierminister und hatte immer mit dem Thema "groß" und "klein" zu tun. Ich wusste immer sehr genau auf welcher Seite ich mich zu verorten hatte. Deshalb habe ich mal in China gesagt, auf einer Pressekonferenz mit dem chinesischen Premierminister: mein lieber Freund, wenn Sie überlegen, dass China und Luxemburg ein Drittel der Menschheit darstellen, dann kriegen Sie einen richtigen Begriff von Größe und Kleinheit.
Wir müssen also an vielem weiter arbeiten und dies ist ein guter Tag, um dies zu tun - ich habe nur nicht die Zeit, die ich dazu bräuchte, weil ich rede ja noch mit meinem Freund Steingart im Detail über diese Dinge. Dies ist ein guter Tag. Gestern war Wahl in Frankreich, heute ist der Jahrestag des Kriegsendes und morgen ist Europatag. Es gibt eigentlich keinen besseren Tag, Bodo, um hier sprechen zu dürfen. Aber wir sollten uns nicht dem Trug hingeben, als ob die Gefahr von extrem rechts jetzt endgültig abgewählt worden wäre. Frau Le Pen hat 11 Millionen Franzosen von ihrer Politik überzeugt. Die sind nicht übermorgen weg. Es gibt einen neuen Präsidenten, der hat über 60% Zustimmung im Land bekommen. Es wird ein wie immer auch zusammengesetztes Parlament geben, und es braucht, Frankreich so oder so, hin und her, den Schulterschluss zwischen Deutschland und Frankreich. Aber es reicht nicht, dass andere sich auf die Schulterblätter der Deutschen und Franzosen setzen. Deutsche und Franzosen müssen auch anderen zuhören. Und sie wären gut beraten - die Deutschen, die Franzosen, und alle anderen auch -, Sie auch Herr Steingart, der Kommission ein aufmerksames Ohr zu schenken.
SPEECH/17/1246